Genetische Untersuchung des Dystrophin-Gens
Fakten
Diagnostische Herausforderungen bei DMD
Eine genaue und rasche Diagnose der DMD ist wichtig, weil sie den frühzeitigen Beginn einer angemessenen Therapie erlaubt.1 Dies stellt jedoch aus einer Reihe von Gründen in der klinischen Praxis eine Herausforderung dar:
- Eltern erkennen möglicherweise die frühe Entwicklungsverzögerung nicht2
- Die klinischen Zeichen werden in der allgemeinärztlichen Versorgung vielleicht übersehen; eine Studie zeigte, dass die ersten Verdachtsmomente von den Eltern oder von medizinischen Laien, wie z. B. Lehrern, geäußert wurden2
- Da DMD eine seltene Erkrankung ist,1,3 sehen Ärzte im Verlauf ihres Berufslebens wahrscheinlich nur wenige Fälle
- Bei bis zu einem Drittel der Fälle gibt es keine positive Familienanamnese4
- Nichtmotorische Manifestationen, insbesondere die Sprachverzögerung, können übersehen bzw. nicht der DMD zugeordnet werden5,6
Diese Faktoren können die Zeit zwischen den ersten Verdachtsmomenten von Eltern und der Diagnosestellung um bis zu 30 Monate verzögern, mit einem Durchschnittsalter der bestätigten Diagnose von rund 4,5 Jahren.2
Die Diagnostik der DMD besteht aus zwei zusammenhängenden Stufen:
1. Klinische Diagnostik (erste Symptome die zu einer Verdachtsdiagnose führen)
2. Gendiagnostik (Bestätigung der klinischen Verdachtsdiagnose)
Die rasche Diagnose ist ein wesentliches Ziel bei Patienten mit DMD, da es sich um eine progrediente Erkrankung handelt und ein frühzeitiger Therapiebeginn vor einem relevanten Muskelverlust das Outcome optimieren kann.1,7 So wurde zum Beispiel nachgewiesen, dass ein frühzeitiger Beginn der Kortikosteroid-Therapie (bei geeigneten Patienten) effektiv die Gehfähigkeit verlängern kann, ebenso wie die respiratorische und kardiale Funktion, aber die verlorengegangene Funktion nicht wiederherstellen kann.8
Allgemein- und Kinderärzte können eine zentrale Rolle einnehmen, wenn es darum geht, DMD frühzeitig zu diagnostizieren, indem sie die typischen Frühzeichen der Muskelschwäche und Entwicklungsverzögerung erkennen.1
Besteht ein klinischer Verdacht auf eine DMD, empfiehlt es sich, so rasch wie möglich den CK-Wert zu überprüfen.3 Im Rahmen der Primärversorgung durchgeführt, kann die Messung den Zeitverlust bis zur Diagnosestellung verkürzen.2 Eine Blutabnahme bei Säuglingen und Kleinkindern kann jedoch für Arzt und Eltern gleichermaßen zur Herausforderung werden. Die Bestimmung des CK-Werts muss keinesfalls in venösem Blut erfolgen. Verschiedene Hersteller bieten mittlerweile Testkits an, die für die Analyse von Kapillarblut geeignet sind. Die kapilläre Blutentnahme ist für den kleinen Patienten verhältnismäßig schonend und erfordert nur einen kleinen Piks – bei Säuglingen am besten am lateralen oder medianen Fersenballen, bei größeren Kindern an der Fingerbeere.4
Um die Diagnose DMD endgültig zu bestätigen, ist eine Genanalyse unerlässlich.3 Diese kann entweder durch den Kinderarzt oder alternativ durch den Neuropädiater/das neuromuskuläre Zentrum veranlasst werden. Ärzte erhalten einen Bonus, wenn sie Laborleistungen gemäß Kapitel 32 des einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM) wirtschaftlich verordnen und ihr Laborkostenbudget nicht überschreiten. Humangenetische Untersuchungen nach Kapitel 11 des EBM werden jedoch grundsätzlich nicht auf das Laborkostenbudget angerechnet und bleiben somit bei der Berechnung des Wirtschaftlichkeitsbonus unberücksichtigt.5
Für eine eindeutige Diagnosestellung ist jedoch die Überweisung an einen Spezialisten für neuromuskuläre Erkrankungen mit Zugang zu geeigneten Untersuchungsverfahren und genetischer Abklärung unumgänglich.1
Vorteile der raschen Diagnose
Sowohl für Kinder als auch für Eltern ist die Frühdiagnose vorteilhaft:
- Eltern können eine fundierte Entscheidung im Hinblick auf ihre zukünftige Familienplanung treffen2
- Das Kind kann frühzeitig von den Vorteilen gegenwärtiger Therapiestandards profitieren, z. B. von einer Kortikosteroid- oder Physiotherapie2
- Zugang zu zugelassenen Therapien, die den Therapieverlauf beeinflussen können, was bei Muskeln, die sich erst in einem geringen Ausmaß verschlechtert haben, einen größeren Vorteil für die Behandlung bedeudet2
- Möglicherweise kann das Kind in Forschungsregister und klinische Studien zu neuen Therapien eingeschlossen werden2
Beurteilung der neuromuskulären Funktion und der Skelettintegrität
Bei DMD ist zu Beginn eine Untersuchung (medizinische/Familienanamnese und auf das Muskel-Skelett-System fokussierte körperliche Untersuchung) durch einen Neuropädiater notwendig. Diese kann als Referenz für die zukünftige Krankheitsprogression und die Wirksamkeit der Therapie herangezogen werden.1 Danach sollte ein Besuch beim behandelnden Arzt alle 6 Monate erfolgen, beim Physio- bzw. Ergotherapeuten alle 4 Monate.1
Im Allgemeinen verschiebt sich im Laufe der Progression der Erkrankung der Schwerpunkt der Beurteilung von der unteren Extremität (bei Gehfähigkeit) hin zur unteren und oberen Extremität (bei Nichtgehfähigkeit).1
Beurteilung der Krankheitsprogression
Kraftuntersuchung, um eine Abweichung vom erwarteten klinischen Verlauf zu erfassen
Untersuchung des Bewegungsumfangs, um eine abnehmende Dehnbarkeit und Gelenkkontrakturen zu erfassen
Zeitfunktionstests, wie z. B. 6-Minuten-Gehstrecke oder 10 Meter gehen/laufen und 4 Treppenstufen steigen/ absteigen
Alltagsaktivitäten
Sturzhäufigkeit, Fähigkeit, einen Rollstuhl zu kontrollieren, Selbstfürsorge, Schreiben und Computernutzung
Untersuchung der Muskelfunktion
Einsatz von Muskelfunktionsskalen zur Kontrolle der Krankheitsprogression und des Ansprechens auf die Therapie
- Bei einem negativen MLPA-Test (kein Nachweis einer großen Duplikation oder Deletion) ist eine vollständige Sequenzierung des Genes notwendig, um zu einer eindeutigen Diagnose zu gelangen3
- Etwa die Hälfte der kleinen Mutationen sind Nonsense-Mutationen
- Eine eindeutige Diagnose der DMD ist nur durch Gendiagnostik möglich
- Bei konsequenter Anwendung können mit Hilfe der bei Bedarf zweistufigen Diagnostik (1. MLP + 2. Gensequenzierung) 97 % der Mutationen nachgewiesen werden
Gen-diagnostischer Algorithmus
Bestätigung der klinischen Diagnose
Die Diagnose der DMD wird nach der Überweisung durch einen Spezialisten für neuromuskuläre Erkrankungen gestellt, der das Kind klinisch beurteilen und die Ergebnisse der genetischen Untersuchung interpretieren kann.1
MLPA
MLPA (Multiplex-ligationsabhängige Sondenamplifizierung) kann Deletionen und Duplikationen (große Mutationen) erkennen, die für ca. 75 % aller Mutationen verantwortlich sind.1,2 Sie ist jedoch nicht in der Lage, kleine Mutationen wie z. B. Nonsense-Mutationen zu erfassen. Das Fehlen einer Deletion oder Duplikation in der MLPA kann die Diagnose einer DMD weder bestätigen noch ausschließen.3,4
Gensequenzierung
Die Sequenzierung des Dystrophin-Gens ist für die Detektion von kleinen Mutationen, also z. B. von Nonsense-Mutationen, erforderlich.1-5
Muskelbiopsie
Zum Nachweis des Vorhandenseins oder Fehlens von Dystrophin-Protein kann eine Muskelbiopsie durchgeführt werden. Die Muskelbiopsie macht jedoch die genetische Untersuchung nicht überflüssig. Sie ist nicht notwendig, wenn die Diagnose bereits durch eine genetische Untersuchung gesichert ist.1
Wann besteht Verdacht auf DMD?
Eine pathologische Muskelfunktion ist das häufigste Zeichen einer DMD.1 Dabei kann sich Muskelschwäche unterschiedlich manifestieren (siehe Seite gegenüber).9 Verzögerungen beim Erreichen von Meilensteinen der Entwicklung wie z. B. Gehfähigkeit und Sprache sollten ebenfalls den Verdacht auf DMD lenken.1 Wesentliche initiale Merkmale umfassen häufiges Fallen sowie Schwierigkeiten beim Rennen und Treppensteigen.1 Insbesondere sollte das Gowers-Zeichen an eine DMD denken lassen, vor allem, wenn das Kind einen watschelnden Gang aufweist.1
Darüber hinaus können sich unklare Anstiege der Kreatinkinase (CK) und/ oder der Transaminasen als potenzielle Zufallsbefunde herausstellen.1
- Die Bestimmung der CK ist eine zentrale Untersuchung in der primärärztlichen Versorgung im Hinblick auf DMD, die die Diagnosestellung beschleunigen kann.2
CK spiegelt die Schädigung des Muskels wider.2 Eine deutlich erhöhte CK-Konzentration – insbesondere bei positiver Familienanamnese – stützt die Diagnose einer DMD und sollte zur Überweisung führen.1 - Aspartat- und Alaninaminotransferase können sowohl vom Muskel als auch von der Leber gebildet werden. Erhöhte Werte bei einem Kind sollten den Verdacht auf das Vorliegen einer DMD lenken, bevor eine Lebererkrankung in Betracht gezogen wird.1
Referenzen
1.Bushby K, et al. Lancet Neurol. 2010;9:77–93. 2.Kalman L, et al. J Mol Diagn. 2011;13:167–174. 3.Laing NG, et al. Clin Biochem Rev. 2011;32:129–134. 4.Abbs S, et al. Neuromuscul Disord. 2010;20:422–427. 5.Dent KM, et al. Am J Med Genet. A 2005;134:295–298.